Eintauchen ins Sein
Erfahrungsbericht über die Lange Auszeit in der Kartause Ittingen, 7. bis 17. Juli 2020
Die Broschüre mit der Einladung zu einer Auszeit in der Kartause Ittingen hat mich angelockt. Das Versprechen in die einstige Stille der Mönche einzutauchen schwingt mit – nachdem die süsse Lockung der Zweisamkeit in den USA durch Corona eine Zwangspause erfährt. Der Partner hinter dem eisernen Vorhang der Pandemie ist nur noch eine Stimme auf dem Smartphone oder ab und zu auch mal eine Lifezuschaltung.
Mit diesem Verlust will ich mich in der Kartause einnisten und meinem inneren Kind und dem göttlichen Zuspruch Raum und Nahrung geben. Das ehemalige Kloster bettet sich in die sanftmütige und satte Thurgauer Hügellandschaft ein. Der feucht-warme Sommer treibt die Pflanzenwelt an. Eine wahre Pracht, die ich als eine Architektur der Stille erlebe – allerdings eine mit Herausforderungen. So leicht wird es mir nicht gemacht. Erstmal habe ich meinen kleinen Rollkoffer in der Frauenfeld-Wil Bahn stehen lassen. Die Puppe aus Kindertagen kostete mich eine Extratasche und Extrahand. Das Umsteigen mit Maske macht mich unachtsam und schwupp, schon ist mein Koffer vergessen. Ich spurte zwar zurück, gehe zweimal durchs Kurzzügli, ich melde mich beim Lokführer – doch der hat ihn auch nicht erhalten. Nun gut, der nette Busfahrer nach Ittingen wartet auf mich, und ich komme trotz allem fast pünktlich zum Treffen des Starts der Auszeit.
Von Ina Lindauer und Thomas Bachofner lerne ich zusammen mit einer anderen Frau wie unsere Auszeit sich gestalt. Es wird wenig von uns erwartet. Das Tempo und die Struktur des Tages werden mehrheitlich von uns selber bestimmt. Mir kommt das sehr entgegen. Ich liebe die Eigenverantwortung und trotzdem wird gut für uns gesorgt mit dem feinen Frühstück und dem grosszügigen Nachtessen. Thomas Bachofner kennt die Kartause gut. Er lebt hier mit seiner Familie. Von Anfang entsteht der Eindruck, dass ich nun auch Teil dieser Gemeinschaft bin. Einer grossen Gemeinschaft, wie ich verblüfft feststelle. Es leben hier auch 30 Menschen in einem betreuten Wohnheim, 30 Menschen kommen von auswärts und dann kommen noch zig Hotelgäste, Tagesausflügler und Seminarbesucher dazu. Also Pustekuchen – von wegen Stille. Ein Bienenschwarm ist es eher, der sich in der einzigartigen Architektur der Kartause ein und aus bewegt. Für elf Tage bin ich eine der Bienen.
Mein Einstieg mit Verlust des Koffers macht auch schon das Thema für alle klar ersichtlich. Ich hadere und rebelliere mit oder gegen Verlust. Bevor ich mit Ina Lindauer in meine Arbeit mit dem inneren Kind einsteige, fahre ich nochmals nach Frauenfeld, erkundige mich bei der SBB, ob ein Koffer abgegeben wurde – doch nix. Ich nehme es erstaunlich gelassen und besorge mir eine Zahnbürste, Zahnpasta und ein Unterhemd. Mehr brauche ich für die erste Nacht nicht. Alles Wesentliche, von Puppe aus Kindertagen bis zu Schlüsseln, Geld und Smartphone, ist sowieso bei mir geblieben.
Mit dem Kofferverlust wird der Einstieg in die Arbeit zum inneren Kind leicht. Ich höre ja schon die Elternstimme: „Konntest du nicht besser aufpassen? Hast du den Kopf in den Wolken?“. Ja, ich weiss, ich bin eine kleine, naseweise Person, die gerne träumt. Doch von Ina Lindauer lerne ich einmal mehr, dass diese Kleine nun einfach angenommen werden will. Sie darf bei mir sein mit ihrem Gefühl des Verlusts. Ich muss sie nicht wegschieben wie mir das bei der Arbeit passiert. Nahrung und Bestätigung soll sie erhalten.
Und siehe da, nach einer Nacht mit wenig Schlaf und einem ersten Treffen und Meditation am Brunnen im grossen Kreuzgarten erhalte ich einen Anruf. Mein Koffer ist aufgetaucht. Die Lokführerin hat ihn dort gefunden, wo ich ihn abgestellt hatte. Dort, wo weder ich noch die Schaffner am Tag davor ihn gesehen haben. Ein Zeichen, dass man im Stress einfach nichts mehr richtig wahrnimmt? Es sieht ganz danach aus. Mit der Ruhe des Morgens und dem Plätschern des Wassers kommt etwas ins Fliessen, und ich fahre nochmals nach Frauenfeld. Zugegebenermassen erleichtert, dass ich meine Lieblingskleider nicht ersetzen muss. Mein Glück teile ich mit meiner Auszeit-Partnerin beim gemeinsamen Abendessen. Auch das ist ein Glück – das Teilen mit einer Person, der man vorher nie begegnet ist und nun wird sie für fünf Tage eine Vertraute.
Langsam beginne ich mich einzupendeln in die Struktur von geistig-spirituellem Zuspruch durch Thomas Bachofner und tags darauf therapeutische Hinwendung zu mir in der Begleitung durch Ina Lindauer. Dieses Hin- und Herpendeln passt – und ansonsten gibt es viel Zeit und Raum zum Erkunden. Doch autsch, der nächste Verlust kommt auf. Meine Gefährtin in der Auszeit und der Pfarrer reisen am Samstag ab. An dem Tag, an dem ich das Gefühl habe anzukommen. Wieder ist Annehmen angesagt und gutes Sorgetragen. Der Bienenschwarm um mich herum ist konstant in Bewegung. Das erneute Beginnen mit anderen in der Auszeit behagt mir nicht. Allerdings habe ich das Versprechen bekommen, dass ich im Garten mithelfen darf. Das lässt den Abschied leichter nehmen. Dort sein zu dürfen, wo sowieso ein konstantes Erblühen und Absterben herrscht.
Übers Wochenende habe ich eine Auszeit von der Auszeit. Eine Freundin entdeckt mit mir die Kartause, das Thymian-Labyrinth und die Himmelsleiter. Voller Freude zeige ich ihr auch den Kräuter- und Blumengarten. Der nächste Tag bringt eine Fahrt nach Gaienhofen und eine reiche Zeit am Untersee. Pizza backen und schwimmen im See mit lieben Freunden. Von meditativer Kargheit gibt es keine Spur, nur die Sehnsucht nach dem Austausch und des Getragenseins bleibt ein Stück unerfüllt. Ich bin ja nicht mit dem, mit dem ich auch sein will. Schicksal annehmen und glücklich sein in dieser Fülle? Es ist ein Ringen, das in die zweite Runde geht mit einem Paar, das in die Auszeit kommt und der Vertretungspfarrerin.
Während wir zu viert am Brunnen neu anfangen, uns neu einschwingen, sprudelt die Brunnenquelle munter und gleichförmig weiter. Die Quelle der Kartause bewässert die gesamte Anlage und sie steht für das Symbol des lebendigen Wassers. Gut, kommt dieses Bild des Brunnens mit den drei Schalen nochmals in der Meditation vor. Etwas grummelig darüber, dass ich meine eigenen Prozesse wieder erklären muss, gebe ich mein Bestes. Irgendwann trägt mich das Wasser und den Koffer konnte ich ja auch erstmal stehen lassen, bevor ich angekommen bin. Es wird schon werden.
Tatsächlich, trotz knallenden Türen morgens und abends durch neue Gäste, die irgendwo neben mir einquartiert sind und vielleicht die Hochzeit des Freundespaares feiern oder ein Managerseminar besuchen, komme ich mir nahe – meinem inneren Kind. Die Stunden mit Ina sind zur Freude und haltgebend geworden. Und dann kommt der Garten. Wie war das noch? Die Kartäuser haben in ihrer Schweigsamkeit ja auch einen Garten gepflegt. Ich darf nun offiziell vier Tage Blüten ernten. Malvenblüten, Kapuzinerkresse und Kornblumen. Es ist ein Farbenschmaus. Es summt und brummt um mich herum. Es gilt achtsam zu sein, dass in der Blüte nicht noch eine Biene steckt. Von der Gärtnerin habe ich einen grossen weissen Kübel erhalten. Wenn du ihn gefüllt hast, kannst du einen neuen holen. Na gut, nach zwei Stunden ist er erst halbvoll. Da merke ich, wie ich auch hier mit mir ringe. Leistungsdruck, dass ich den Kübel voll kriege oder achtsames Pflücken ohne zu schauen, wie schnell ich vorwärts komme?
Am zweiten Tag entdecke ich, wie schwer gepudert mit Pollen manche Blüten sind und lasse sie stehen. Für die Bienen, die sich bepacken mit Blütenstaub. Ich entscheide mich gegen das rasche Füllen des Kübels und komme trotzdem vorwärts. Eingebettet in diesem Bienenschwarm fühle ich mich eintauchen ins Sein. Die Farbengewalt der Blüten, die Düfte und ihr Geschmack im Mund berühren mich im Innersten. Ich bestehe nur noch aus Leichtigkeit. Im Garten rücken alle schweren Dinge von mir weg. Die vielen Leute gehen mir nicht mehr auf den Wecker. In meiner Freude lade ich Vorbeigehende ein, von der Kapuzinerkresse zu probieren. Mit ihren scharfen Senfölen erquickt sie uns. Ade zu Viren, Bakterien und schlechter Laune!
In diesem Geiste betrete ich am Vorabend meiner Abreise eine Kartäuserstube. Irgendwo hängen Gebete noch in der Luft. Sie ziehen uns an. Und inmitten von all diesem Gewusel bin ich dankbar, dass ich hier meinen Koffer abstellen konnte und mein inneres Kind genährt wurde. Wie ging das noch? Weitergehen im Vertrauen auf Gott. Die innere Quelle ist jedenfalls wieder ins Fliessen gekommen. Gott sei Dank.
Andrea Eugster Ingold